Das, was wir unser Leben nennen ….

„Das, was wir unser Leben nennen“, sagt der große Chirurg und eifrige Genealoge Ernst von Bergmann im Vowort zu seiner Familienchronik, „ist nicht ein zwischen Geburt und Tod Abgeschlossenes, vielmehr ein Empfangenes und Fortgesetztes, eingereiht in eine Kette, deren Glieder vom Anbeginn der Welt bis ins Unendliche ineinander greifen. Ererbt von den Vorfahren, wird das Leben vererbt auf die Nachkommen. Es ist nicht plötzlich frei und unabhängig aus einer zufälligen Mischung von Elementen hervorgegangen, sondern gebunden an eine Reihe vorangegangener und regelrecht sich folgender Geschlechter.

Nur in einer kurzen Spanne Zeit, die zwischen seinem Kommen und Gehen liegt, hat der einzelne Mensch das Bewußtsein von seinem Leben und das Vermögen, über seines Daseins Grund und Zweck zu sinnen und zu denken. Die Erinnerung führt ihn an das erste Glied der Kette, an welcher sein eigenens Leben hängt, an die für ihn noch erreichbaren Gestalten von Vater und Mutter. Er weiß, dass sie ihn ins Lebens führten, in eine bestimmte gesellschaftliche Stellung und auf eine bestimmte Entwicklungsbahn, und dass er, was er ist, ihnen schuldig ist.

Der denkende Mensch kann nicht anders, als weiter zu fragen: Wie aber wurden die Eltern das, was sie waren? Wie unser physisches Leben selbst, so ist auch alles, was mit und an uns geschehen, ein aus Anderen Gewordenes und die Folge einer geschichtlichen Entwicklung. Wie sollten wir da nicht gern in diese Geschichte uns versenken und in der Vergangenheit der Voreltern suchen, wie wir zur eigenen Gegenwart gekommen sind?

In jedem der aus- und absteigend miteinander verbundenen Einzel-Leben wiederholen sich, wie vor Tausend Jahren so auch heute, die überall gleichen Naturformen des Menschen mit den ihnen innewohnenden Eigenheiten: Geburt und Wachsen, das spielende Kind, der stürmische Jüngling, der Zug der Geschlechter zueinander, Freundschaft und Liebe, Werbung und Ehe, Arbeit und Muße, Streben und Begierde, Warnung und Rath, Sitte und Stammesgemeinschaft, Krankheit, Schwäche, Alter und Tod. Eingeschlossen in diesen Ring sind die Erlebnisse eines Jeden.

Man mag nicht mit jeder Formulierung übereinstimmen, aber ich finde, es lohnt sich, über diesen Text nachzudenken. Er stammt aus dem Vorwort der Familiengeschichte, die Ernst Gustav Benjamin von Bergmann (1836-1907) im Jahre 1898 für seinen Sohn verfasste. Ernst von Bergmann entstammt einer deutsch-baltischen Familie und wird in Riga geboren. Den 1. Teil dieser Familienchronik findet man hier – auf der Seite der Universität Tartu.

Dieser Beitrag wurde unter Allgemein abgelegt und mit , , verschlagwortet. Setze ein Lesezeichen auf den Permalink.

Eine Antwort zu Das, was wir unser Leben nennen ….

  1. Frank Steinau sagt:

    Liebe Irmi,

    ein ganz toller Text, der wirklich ans Herz geht, wenn man sich mit Ahnenforschung auseinandersetzt.

    GLG

    Frank

Schreibe eine Antwort zu Frank SteinauAntwort abbrechen

Diese Website verwendet Akismet, um Spam zu reduzieren. Erfahre mehr darüber, wie deine Kommentardaten verarbeitet werden.