Mehr als ein Jahrhundert nach Erstveröffentlichung der „Jugenderinnerungen eines armen Dienstmädchens“ gelang es Krystyna Drożdż das Geheimnis des Pseudonyms Marie Sangène zu lüften, unter dem die Autorin ihre Erlebnisse damals veröffentlichte. Alle Nachforschungen waren zuvor erfolglos geblieben. Für mich ist diese Geschichte sehr spannend, weil ich ihre späteren Schwiegereltern „kenne“!
(Anmerkung: die aus der Zusammenstellung von Krystyna Drożdż übernommenen Textstellen hat mir der DeepL Translator übersetzt!)
Als das Buch 1906 erstmals erschien, erregte es kaum Aufsehen. In den 1970er Jahren wurde das Buch neu aufgelegt. 2019 werden die Jugenderinnerungen im Rahmen der Verlagsreihe ‚Danzig in Danzig‘ in polnischer Sprache veröffentlicht und „heute [so der Historiker Peter Oliver Loew im Vorwort der polnischen Ausgabe] gilt das Buch als einer der wichtigsten autobiografischen Texte, die von einem Vertreter der Dienstboten des neunzehnten Jahrhunderts geschrieben wurden„. Krystyna Drożdż schreibt: „die Seiten dieser autobiografischen Erinnerungen sind voller Bilder vom Leben der Danziger in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Der Leser blickt mit der Autorin in die Häuser der Bourgeoisie, in Militärquartiere, in die Keller der Armen, in städtische Geschäfte und Fabriken und wandert durch die Straßen von Danzig, seine Vororte und das Umland“.
„Aus der Lektüre der Memoiren [schreibt Peter Loew weiter] erfahren wir einiges über ihre Kindheit und Jugend, die sie im historischen Zentrum von Danzig verbrachte. Alle nachfolgenden Nachforschungen über die wahre Identität der Autorin und ihres Ehemannes sind jedoch – bis jetzt – erfolglos geblieben. Vielleicht gelingt es jemandem, etwas Licht in dieses Dunkel zu bringen, wenn er anhand der zahlreichen im Text verstreuten Informationen die Kirchen- und Adressbücher durchforstet?“.
Krystyna Drożdż begab sich auf Spurensuche, um herauszufinden, wer dieses mutige Mädchen war, „das ein starkes Selbstwertgefühl hat, fleißig ist, sich für seine Familie aufopfert, sein Leben bewusst gestaltet und neugierig auf alles ist, was um sie herum geschieht“. Krystyna verfolgte die Hinweise, die Marie Sangène selbst in ihren Jugenderinnerungen gibt.
Marie erwähnt zum Beispiel, dass sie im Jahre 1853 in Danzig geboren worden sei, dass ihr Vater Kutscher war und dass sowohl ihre Mutter als auch ihre Großmutter im Armenhaus Pelonken in Oliva verstarben.
Mit Hilfe der Danziger Meldekartei, anhand verschiedener Kirchenbücher und Standesamtsregister gelang es Krystyna, die Identität der Verfasserin aufzudecken. Ich selbst habe noch ein wenig weiter geforscht und Folgendes ist nun bekannt:
Marie Sangène kommt am 18. März 1853 als Maria Rosalie Jacobi in Danzig zur Welt. Ihr Vater ist der Kutscher Johann Gottfried Ernst Jacobi – ihre Mutter Elisabeth Florentine Jahnke war in 1. Ehe verheiratet mit dem Arbeiter Johann Gottfried Janzen. Maria erzählt:
„Mutter, die ihren ersten Mann bald verlor, kam während einer großen Weichselüberschwemmung mit Großmutter nach Danzig, und beide blieben fortan dort wohnen. Mutter wurde zunächst Krankenwärterin im Lazarett am Irrgarten und machte dort eine große Choleraepidemie durch. … Hier lernt sie auch meinen Vater kennen, der dort wegen eines kranken Fußes lag, und heiratete ihn dann.“
Marias Mutter Elisabeth Florentine Jahnke wird am 7. August 1819 als Tochter des Arbeiters Johann Jacob Jahnke und dessen Ehefrau Elisabeth Hukowski auf dem Vorwerk Quadenhof bei Danzig geboren. (Auch Elisabeths Eltern konnten noch ermittelt werden – es sind dies der Soldat Michael Hukowski und seine Ehefrau Eleonore Holst bzw. Holz).
Der Vater ist „ein lebenslustiger, stattlicher Mann, der leidenschaftlich gern tanzte“. In der ersten Zeit seiner Ehe handelt er mit Pferden, die er aus Warschau holt und in Danzig verkauft – als ihm dies aus gesundheitlichen Gründen nicht mehr möglich ist, sucht er sich in Danzig „eine leichte Beschäftigung als Kutscher zwischen den Speichern und dem Hafen und in der Umgegend.“ Marias Mutter arbeitet unermüdlich und übernimmt alle nur erdenklichen Dienste, um die Familie zu versorgen: sie wäscht die Hemden für Soldaten, beherbergt diese und kocht für sie. Sie „wusste alles praktisch einzurichten und wo es nur anging, Geld zu verdienen“.
Und selbstverständlich müssen auch die Kinder ihren Beitrag zum Unterhalt der Familie leisten. Maria berichtet:
„Schon während ich noch zur Schule und zum Unterricht ging, hatte ich auf recht harte Art meiner Mutter einiges Geld verdient. In der Nähe von uns war ein für die damalige Zeit großes Milchgeschäft; es wurden täglich wohl 400 bis 460 Liter Milch und Sahne an die Kunden verkauft und vertragen, die Sahne meist in die Konditoreien; zu diesem Austragen wurde ich oft hinzugezogen, aber auch zu schwererer Arbeit. Die Milch kam nämlich im Sommer mit den Böten aus dem Werder, im Winter aber, wenn das Wasser zugefroren war, musste sie getragen werden; so wurde ich öfter auch bestellt, um mit diesen Milchträgern mitzugehen. Dann musste ich um drei Uhr in der Nacht aufstehen und in die Finsternis und Kälte hinaus …“
An ihre Schulzeit kann sich Maria Jacobi kaum erinnern. Zwar besucht sie die Schule etwa 6 Jahre lang – vom 8. bis zum 14. Lebensjahr – doch immer wieder wird sie von der Mutter für längere Zeiten abgemeldet. Die Mutter benötigt ihre Unterstützung bei häuslichen Arbeiten. „Ging ich aber wirklich zur Schule“ so berichtet sie, „war ich oft durch körperliche Arbeit schon so ermüdet, dass mir Einschlafen näher lag als Aufpassen“.
25 Jahre lang wohnt die Familie in einer Kellerwohnung in der Fleischergasse, für deren Miete anfangs 7, dann 8 und zuletzt 9 Mark monatlichzu zahlen war. „Als nun aber nach 1866 das Flaschenbiergeschäft in Danzig aufkam, wurden die Keller immer teurer“ – die Famlie muss ihre Wohnung verlassen, zieht zunächst in die Tarngäter– und später in die Baumgartschengasse.
Anhand der Eintragungen in der Danziger Meldekartei können wir verfolgen, wann Maria Jacobi ihre Arbeitsstellen wechselt und bei welchen Familien sie dient.
Krystyna Drożdż fand heraus: „In der Pfefferstadt 56 diente Maria bei der Familie von Generalmajor August Reinhold Orlowius, wo sie viel lernte und relativ gut versorgt wurde. Die „edle Dame“ hingegen, über die sich Maria so sehr lustig machte, weil sie „vor lächerlichem Stolz platzte“, war die Frau eines Lehrers an einem der Danziger Gymnasien – Dr. Richard Martens. Die Direktorin einer Privatschule in der Ogarna-Straße 42, die Maria spätabends vor ihrem Haus warten ließ, bis sie ihren Freund besucht hatte, und die versuchte, Maria um ihr Gehalt zu betrügen, war Fräulein Sofia Franziska Nagel. Hätte sie gewusst, dass sie nach einhundertfünfundvierzig Jahren von jemandem für diese Unehrlichkeit gerügt werden würde, wäre sie vielleicht zuverlässiger in ihrer Buchführung gewesen.“
Am 25. Juni 1875 verstirbt Marias Vater im päpstlichen Lazarett von Danzig. Er wird 56 Jahre alt. In seiner Sterbeurkunde wird angegeben, dass er in Elbing geboren wurde. Marias Mutter Elisabeth Florentine, geb. Jahnke verbringt die letzten 15 Jahre ihres Lebens im Armenhaus Pelonken in Oliva, wo auch ihre Mutter Elisabeth Jahnke, geb. Hukowski bereits seit vielen Jahren versorgt wird.
Auch Elisabeth Hukowskis jüngster und ärmster Bruder Johann sowie ihr 2. Ehemann Jacob Kobiella, den sie 1848 in Danzig heiratete, soll sich um 1877 im Armenhaus befinden. Offenbar hat dieser das Armenhaus jedoch wieder verlassen und versucht, die Familie durch eine Anstellung als Kuhhirte zu unterstützen. Im Juni des Jahres 1880 verstirbt er durch einen tragischen Unfall:
Der kathol(ische) Kuhhirte Jacob Kobiella aus Danzig starb am 13. Juni nachdem er von einem Bullen auf die Hörner genommen und tödtlich verletzt war, und wurde den 15ten in Stüblau ej. begraben. Alt: 67 Jahre. Erbe: die Ehefrau soll sich angeblich im Armenhause zu Pelonken befinden.
Elisabeth Hukowski wird fast 91 Jahre alt, sie stirbt am 1. Januar des Jahres 1890 im Armenhaus – das Leben ihrer Tochter Elisabeth Florentine Jacobi, geb. Jahnke, endet am 29. Dezember 1892 in Pelonken.
Doch zurück zu Maria Rosalie Jacobi ….
Sie erwähnt auch einige ihrer Geschwister – zum Beispiel ihren jüngsten Bruder, von dem sie berichtet, er sei zu einem Bauunternehmer gegangen und hätte ihm als Maurer geholfen – später habe er dann eine lohnende Beschäftigung an der Königlichen Pulverfabrik in Spandau gefunden. Dieser Bruder ist der am 2.2. 1862 in Danzig geborene Johann Otto Jacobi. Er heiratet 1919 in Berlin die aus Carlshafen, Kr. Hofgeismar, stammende Witwe Johanne Christine Louise Barre. 1933 wohnt das Ehepaar in Spandau, in der Lessingstraße 41.
„Auch mein ältester Bruder hat in Danzig sein gutes Auskommen, nur meiner Schwester könnte es besser gehen“ erzählt Maria. Der Arbeiter Hermann Julius Jacobi heiratet 1883 in Danzig Adelgunde Wilhelmine Florinski aus Pasewark in der Danziger Niederung. Er stirbt 1910 in Danzig – von 4 Kindern sterben 2 kurz ihrer Geburt, Sohn Paul Wilhelm Jacobi *1888 in Danzig arbeitet als Dreher in Spandau wohnt dort in der Weißenburgerstraße 19. 1916 verstirbt er in der Reisstraße vor dem Wernerwerk. Tochter Clara Maria Jacoby wird 1907 in Danzig die Ehefrau des Arbeiters Carl Ferdinand Marczinski. Auch dieses Ehepaar lebt später in Spandau. Ihre beiden Töchter versterben dort bereits im Kleinkindalter
Das Danziger Dienstmädchen Maria Rosalie Jacobi nimmt sich vor, nicht – wie ihre Schwester – den Fehler zu begehen, in eine „leichtsinnige Heirat“ „hineinzuspringen„.
Irgendwann tritt ihr späterer Ehemann Gustav Viktor Gützlaff in ihr Leben.
Doktor Gustav Viktor Gützlaff ist fast 14 Jahre älter als Maria Rosalie und seit Ostern 1874 Lehrer am Realgymnasium in Elbing, wo er Deutsch, Französisch, Geschichte und Religion unterrichtet. Später wird er zum Professor ernannt. 1876 zieht Maria – zunächst für 6 Monate probeweise – nach Elbing, um dort für ihn als Haushälterin zu arbeiten. Ihre Abreise ist auch in der o.a. Meldekartei vermerkt.
Mit Familie Gützlaff habe ich mich für mein Buch über die Begüterung Worienen (Woryny) schon vor einigen Jahren näher beschäftigt, da Viktor Gützlaffs Eltern – der ehemalige Getreidehändler Christian GUSTAV Gützlaff und AUGUSTE Emilie Charlotte Nauck – in den Jahren von 1841-1866 im Besitz dieser Begüterung waren. Viktor selbst wurde 1839 in Danzig geboren, kam als Kleinkind nach Worienen und verbrachte dort einen Großteil seiner Kindheit.
Die Eltern erleben die Hochzeit ihres Sohnes Viktor nicht mehr mit – sie verstarben 1880 bzw. 1878 auf dem Gut Neukrug bei Worienen, das mittlerweile von ihrem Schwiegersohn Andreas Walter Brockmann übernommen wurde.
Ich frage mich, wie wohl das Dienstmädchen aus Danzig bei den anderen Familienmitgliedern aufgenommen wurde …… ? Und was hätte Viktors Vater gesagt ….?
die Eltern von Gustav VIKTOR Gützlaff
Als Maria Rosalie Jacobi und Viktor Gützlaff 1887 in Elbing die Ehe schließen, gibt es bereits 3 gemeinsame Kinder, von denen jedoch das erste nach nur wenigen Monaten verstorben war – die beiden anderen werden im Nachhinein von Viktor Gützlaff anerkannt. Diese Kinder sind:
- Gertrud Helene Rosalie Gützlaff *16.11.1883 in Oliva oo 1903 in Elbing des Polizeiassistenten Hermann Fritz Otto Richter oo 1918 in Zoppot Johann August Paul Weiß *1877 in Crossen, Pr. Holland (Eltern: der Gutsbesitzer Gustav Robert Weiß u. Ida Henriette Muntau) – Johann August Paul Weiß ist Bürgermeister von Zoppot. Er verstirbt 1940 – Gertrud Helene Rosalie Gützlaff wird am 7. Januar 1941 in Zoppot, in der Franziusstraß 24 tot aufgefunden – als Todesursache wird „Tod durch Erhängen“ angegeben
- Charlotte Viktoria Käthe Gützlaff *14.11.1885 in Elbing oo am 5.2.1908 in Zoppot den dänischen Ingenieur Carl Peter Hansen. Nur wenige Monate nach der Eheschließung – am 18.12.1909 – verstirbt Charlotte Viktoria Käthe Gützlaff in der Wohnung des Ehepaars in Danzig-Langfuhr, Bahnhofstraße 5
- Sophie Maria Anna Gützlaff *15.7.1887 in Elbing oo 1933 in Zoppot den aus St. Petersburg stammenden verwitweten Kaufmann Wsewolod von Skossyreff – Kinder konnten nicht ermittelt werden
- Emilie Helene Gützlaff *23.5.1890 in Elbing oo 1914 in Zoppot den Kaufmann Ernst Paul Bahr, der 1890 in Weißfluss, Kr. Neustadt, Westpreußen, zur Welt kam. Die beiden hatten 2 Kinder: Gisela *1918 u. Wolfgang Bahr *1921.Wolfgang Bahr fällt 1944 im Krieg – die anderen Familienmitglieder versterben 1945 in Guben, Brandenburg.
- Paul Georg Gützlaff *2.11.1892 in Elbing, zunächst kaufmännischer Angestellter, später Verlagsdirektor der Deutschen Buchgemeinschaft oo 1942 in Blankenfelde, Kr. Teltow Gertrud Kaerber. Nur ein Jahre nach der Eheschließung – am 28 Apr 1943 – wird er in der Wohnung mit durchschnittener Halsschlagader aufgefunden.
- Gustav Siegfried Georg Gützlaff * 10 Apr 1894 in Elbing oo 1920 in Zoppot Johanna Berta Borbe – das Ehepaar lebt zunächst in Brasilien und wandert von dort 1925 aus in die USA – 1930 wohnen sie in Manhattan, New York
In Elbing wohnt Viktor Gützlaff 1898 mit seiner Familie in der Stadthofstraße Nr. 7a
Viktor Gützlaff und seine Maria kehren zurück nach Zoppot und leben dort noch bis ins hohe Alter – Viktor wird 80 Jahre alt und verstirbt am 14. Dezember 1919 – Maria erleidet im Alter von fast neunundsiebzig Jahren einen Herzinfarkt und stirbt am 19. Februar 1932. Ihr Tod wird angezeigt von Tochter Sophie Maria Anna Gützlaff, die zu dieser Zeit noch bei ihr wohnt. Das Ehepaar lebt im Haus Danziger Straße Nr. 70.
Leider ist es bislang nicht gelungen, noch lebende Nachkommen von Maria Rosalie Gützlaff, geborene Jacobi, aufzuspüren!
Und auch in Bezug auf Johann Jacob Jahnke, Marias Großvater (Ehemann von Elisabeth Hukowski) gilt es, noch ein Rätsel zu lösen! „Dieser, mein Großvater“ berichtet Maria Rosalie Jacobi „war das natürliche Kind einer Bauernmagd und eines Offiziers, eines südfranzösischen Grafen, der als Emigrant in preußische Dienste getreten und ich glaube bei der Belagerung Danzigs im Danziger Werder bei einem großen Käsebauern im Quartier lag.“ Das fremdländische Aussehen des Großvaters vererbte sich auf Marias Mutter, Maria selbst und auf ihre Tochter Charlotte Viktoria Käthe Gützlaff.
Ja, das ist aber eine feine Arbeit. Sehr interessa nt zu lesen. Meine Großeltern wohnten auch zu der Zeit in Elbing. Mutter wurde in 1908 dort geboren.
Vielen Dank, das ist wahnsinnig spannend und interessant was alles herausgefunden werden kann.
Meine Vorfahren stammen aus Danzig. Bei meinem Vater steht auf der Geburtsurkunde als Hinweis zur Mutter – Hausmädchen – 1930 wohnhaft in Breitfelde, Danziger Niederung. Ein Jahr später als seine Schwester geboren wurde, war der Wohnort auf der Danziger Höhe.
Sie wuchsen beide dann irgendwann bei Pflegeeltern in Langfuhr auf. Er konnte sich nicht erinnern ab welchem Alter und warum.