‚Ein Brief über den Nothstand in Ostpreußen‘

1868 wird in einer Ausgabe des ‚Grenzboten‚ ein in Königsberg im Februar desselben Jahres verfasster Brief über den Nothstand in Ostpreußen abgedruckt. Darin geht es zunächst um den wirtschaftlichen Notstand, die schlechte Verkehrssituation im Land (fehlende Chausseen und Eisenbahnlinien), um Handel, Industrie und Landwirtschaft.

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 Digitalisat der Staatsbibliothek Bremen

Dann schreibt der Verfasser (dessen Name – bewusst? – nicht genannt wird): ‚Es würde aber sehr einseitig sein, wollte man nicht bei dieser Gelegenheit hervorheben, daß wir auch in einem geistigen und moralischen Nothstande leben, welcher den materiellen wesentlich verschlimmert. Die große Masse der Bevölkerung ist bei uns r o h, s e h r  r o h, sodaß es für den Gebildeten eine wahre Erholung ist, einmal mit schlesischen, sächsischen oder rheinischen Arbeitern zu tun zu haben‘.

Als Ursache für diese ‚Rohheit‘ gibt er u.a. die ‚Beimischung nicht-deutscher (litthauischer und masurischer) Elemente‚ an, die ‚in manchen Grenzkreisen noch die Mehrzahl bilden und deren Germanisirung nur langsam vorrückt‘. Er bezeichnet die in Ostpreußen lebenden Lithauer und Masuren, mit denen es auch in moralischer Hinsicht ‚gar übel bestellt‘ sei als Hemmschuh der Cultur und schreibt: ‚Das rauhe Klima und die harte Feldarbeit begünstigen … den Trunk und mit ihm Zank, Schlägereien, Familienzerwürfnisse, Verwahrlosung der Kinder. Die Begriffe von Ehre, Pflicht und Gesetz stehen noch auf der niedersten Stufe: Holzdiebstahl gilt kaum als Diebstahl, Unkeuschheit ist bei der ärmeren Classe kaum mehr als ein Tadel‘.

Auch dort, wo keine Masuren oder Litthauer lebten, sei eine ‚Cluft zwischen den gebildeten und ungebildeten Classen, als wohnten zwei verschiedene Volksstämme auf derselben Scholle‘. Der Schreiber beklagt den mangelhaften Schulunterricht und das fehlende Interesse am Zeitungslesen. Auffällig sei, dass fast alle älteren Männer, die ihre Schulbildung vor 40-50 Jahren erhalten hätten, schreiben und lesen könnten, aber nur wenige jüngere dazu imstande seien.

Und schließlich spricht er das Problem der ‚Hütejungen‚ an. Da die Dörfer keine gemeinschaftlichen Weiden mehr haben, auf denen ein Gemeindehirt das Vieh beaufsichtigt, ‚muß jeder kleine Besitzer sein Vieh auf seinem Stück Weide besonders hüten lassen und verwendet dazu natürlich gern die billigste Kraft, d.h. ein Kind im schulpflichtigen Alter. Die Schulstrafen weiß er zu umgehen oder er bezahlt sie auch und kommt trotzdem noch billiger fort. Unzweifelhaft werden auch auf vielen größeren Gütern Kinder, die noch in die Schule gehörten, schon zu wirthschaftlichen Arbeiten verwandt, nicht nur während der Erntezeit …., sondern auch außerhalb derselben. Da hier der Gutsherr als Ortspolizei die Schulstrafen festzusetzen hat und der Lehrer außerdem sehr von seinem Wohlwollen abhängt, so kann man sich denken, wie dabei die gesetzlichen Bestimmungen gehandhabt werden‘.

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