Ich habe mittlerweile unzählige Fluchtberichte ehemaliger Ostpreußen gelesen und weiß, welches Elend viele von ihnen erleiden mussten. Aber es gibt auch andere Fluchtberichte, die mich sehr berühren. Besonders in der Region um Landsberg (Górowo Iławeckie) im Kreis Preußisch Eylau werden unmittelbar nach dem II. Weltkrieg viele litauische oder ukrainische Familien angesiedelt, die ihre Heimat ebenso verloren und sich unter widrigen Bedingungen ein neues Leben aufbauen mussten.
Die folgenden Auszüge stammen aus einem Bericht von Ryszard Bytowt, der aus Bezdany in Litauen stammt und von der Umsiedlung seiner Familie berichtet, die letztlich im Dorf Pieszkowo (Petershagen), im ehemaligen Kreis Preußisch Eylau landet – nicht weit von Landsberg entfernt.
Ryszard war damals ein Kind – er erzählt zunächst von dem schmerzhaften Abschied in Litauen.und fährt dann fort:
In der Morgendämmerung des 9. Mai (1946) hielt der Transport an der polnisch-sowjetischen Grenze an, und nach mehrstündiger Kontrolle der Papiere und der eingeladenen Güter passierte der Zug die Grenze und befand sich auf dem Gebiet des ehemaligen Ostpreußen. An der Grenze waren jedoch viele, auf Befehl der Russen hinausgeworfene Kisten zurückgeblieben. Uns war ein ganzer Koffer mit kostbaren polnischen Büchern weggenommen worden und im Schmutz gelandet. Bei den Nachbarn waren es andere Gegenstände oder Lebensmittel. Schließlich erfuhren wir, dass von unserem Zug ein Waggon mit drei Familien abgekoppelt worden war, die aus unbekannten Gründen auf der sowjetischen Seite bleiben mussten. Jeder schaute sich um, wie es in den durchfahrenen Gebieten aussah; die Bebauung, die Feldbestellung in der neuen Heimat. ….
Die Umgebung von Korschen sah ziemlich schlimm aus. Überall Müll verschiedenster Art, durch Wettereinwirkung aus dem Leim gegangene Möbel, es standen sogar zum Teil zerstörte Klaviere und Flügel herum; jemand versuchte, etwas auf der Tastatur zustande zu bringen. In den Gräben lagen zerstörte Räder und Motorräder, mit einem Wort, nicht verwischte Spuren des Krieges. Im Allgemeinen jedoch gefiel es uns, und besonders die vorfrühlingshaft mit üppigem Gras bewachsenen Felder. Ringsum blühende Rosskastanien, und in der Ferne, auf den Feldern Haufen von unausgedroschenem Getreide, Mengen von Kalkdünger und anderem Kunstdünger. Die Bauern freuten sich, dass es Weideplätze für die Tiere gab. Mit Erstaunen betrachteten wir die großen gemauerten Gebäude, deren Fenster ohne Scheiben und deren Dächer durch Kriegseinwirkungen beschädigt waren. In den zurückgelassenen Heimatgebieten waren auf dem Dorf die meisten Gebäude aus Holz oder nur teilweise untermauert. […]
Es wurde auch bekanntgegeben, dass der Kreis Landsberg (Górowo II.) die meisten leeren Gebäude und Landwirtschaftshöfe aufweise, es jedoch an Eisenbahnverbindungen mangele, denn die Russen hätten die Eisenbahnschienen und anderes Gerät abmontiert und wegtransportiert.
Einige Familien fanden leere Wohnungen in Heilsberg, andere gingen tagelang in den umliegenden Dörfern umher, fanden etwas und warteten nur auf Autos, die ihre Habe zu den ausgekundschafteten leeren Häusern in den nahen Dörfern brächten. Nach drei Tagen wurde es leer auf dem Bahnsteig. Diejenigen, die noch dort waren, wurden angewiesen, diesen zu verlassen, da der nächste Repatrianten-Transport aus Nowa Wilejka und Wilna erwartet wurde. Mein Vater bestach einen Oberleutnant mit einem Kanister aus der Heimat mitgebrachtem Selbstgebrannten, der ziemlich schnell zwei Autos amerikanischer Herkunft bereitstellte, um uns in das Gebiet des oben erwähnten Kreises Landsberg zu bringen. …
Es waren zwei sehr abgenutzte Autos, die Gänge krachten beim Einlegen, das Getriebe klapperte; es bestand keine Gewißheit, dass wir das Ziel erreichen würden. Die Vorahnung erwies sich als richtig, kaum hatten wir 12 km zurückgelegt und befanden uns am Anfang des Dorfes Petershagen (Pieszkowo), ging eines der Autos kaputt, und der Fahrer sagte, weiter kämen wir nicht. Ein schrecklicher Anblick war das, als wir hier zum Stehen kamen! Das, was wir in Korschen, ja sogar in Heilsberg gesehen hatten, war nichts, im Vergleich zu dem Landschaftsbild, welches das Dorf umgab.
Tausende von zerstörten Militärautos und Panzern, Fässern, Drähten und weiß Gott noch alles! Die Soldaten hießen Vater, Anstalten zu treffen zum Ausladen der Pferde, Kühe und Gerätschaften. Mutter bat, uns zur nahen Milizwache zu bringen, weil man uns in dieser Gegend und bei den Gebäuden in Ruinen am Anfang des Dorfes bestehlen und in der Nacht vielleicht sogar erschlagen würde. Vater griff wieder nach einer der Flaschen mit Schnaps, die noch im Getreidekasten steckten, gab sie dem Fahrer und fing an, ihn zu bitten, uns zu der Miliz zu bringen, von welcher wir durch einen gaffend herumstehenden alten Deutschen erfahren hatten.
Nachdem der Fahrer die Flasche mit der heißen Ware versteckt hatte, wurde er weich und beschloß, das kaputte Auto mit einem platten Reifen und dem nicht funktionierenden Motor mittels des anderen fahrtüchtigen Autos abzuschleppen und uns so ans andere Ende des Dorfes zu transportieren. Ein Seil zu finden war nicht schwer. Neben uns im Graben lagen viele verschiedene Seile und Drähte. Er band beide Autos aneinander, zog uns langsam durch das Dorf und hielt an der Milizwache an. Ich erblickte drei Milizianten und eine Zivilperson, die neben dem Gebäude im Gras lagen und Karten spielten. […]
Mutter suchte einige Stunden lang Teller, Messer und Gabeln zusammen und bereitete einen Imbiß zu, der aus geräuchertem Schinken, Getreidekaffee mit Milch und natürlich den Resten des selbstgebrannten Schnapses bestand. Der für die Hilfe dankbare Vater lud die Milizionäre und die Familie des Scheunenbesitzers ein, und gemeinsam genossen wir am neben der Dreschtenne aufgestellten Tisch mit großem Appetit das Essen, tranken den Branntwein dazu und priesen die Hausfrau. Wir hatten also erste Bekanntschaft im unbekannten Gebiet geschlossen. Nach einem arbeitsreichen Tag und vielen Eindrücken schliefen wir ruhig auf dem ausgebreiteten Stroh ein. Die Pferde und Kühe fraßen das viele Jahre lang in der Scheune gelagerte Heu und Stroh. ……
In der Scheune saßen wir zwei Wochen lang. Vater und ich erkundeten Petershagen und die Dörfer in der Umgebung. Wir konnten uns nur schwer vorstellen, dass die Repatrianten und die Ansiedler aus Zentralpolen dies Gebiet schnell wieder in den Normalzustand zurückführen könnten. Es gab keinen Strom, die von den Geschossen zerfetzten elektrischen Leitungen lagen auf der Erde oder hingen von den Masten herab.
Eine kleine Anzahl älterer Deutscher mit Kindern, während die mittlere Generation nicht mehr lebte oder nach Deutschland geflohen war, brachte den Repatrianten aus der Wilnaer Gegend mehr Vertrauen entgegen als den polnischen Ansiedlern, die aus den Häusern deutscher Familien Möbel und anderen Hausrat entwendeten. Die Deutschen brachten meiner Mutter öfters Teller und anderes Geschirr mit der Bitte um ein Stück Brot, Milch oder Speck als Gegengabe. Mutter, welche die Schrecken des Krieges kannte, gab ihre bescheidenen Lebensmittelvorräte an die Deutschen ab, ohne das Geschirr oder andere Sachen anzunehmen. Durch dieses Verhalten gewann sie auch Freunde unter der einheimischen Bevölkerung.
Wir waren erst fast zwei Jahre nach der Befreiung als Repatrianten hier angekommen. Die besseren Gebäude waren schon durch Ansiedler aus verschiedenen Gegenden Polens besetzt. Es gab noch viele leere Häuser, aber in ruinösem Zustand, teilweise abgebrannt. Die zweiwöchige Suche in der Umgebung hatte zu nichts geführt.
Der resignierte Vater nahm mich und meine Mutter mit, indem er nur meinen jüngeren Bruder Rajmund zur Bewachung der Habe zurückließ, und schlug vor, ein Haus zu beziehen, das er „Zu den alten Eichen“ getauft hatte, weil bei diesem Haus zwei mächtige Eichen wuchsen. Eine an die Eingangstür des Wohnhauses geheftete weiß-rote Flagge war das Zeichen, dass das Haus besetzt sei. Fast jeder Repatriant hütete sich, ein Haus einzunehmen, (auch wenn es leerstand), an dem eine weiß-rote Fahne angeschlagen war.
Unser Beschluss war einstimmig. Wir würden dieses Haus in Besitz nehmen. Wir würden in dieses Haus einziehen und Bauern werden, wie wir es in der Heimat waren, obwohl Mutter lieber in der Stadt gelebt hätte. Man kann sich überhaupt keine Vorstellung machen, wie die Gebäude und sogar die Äcker aussahen! Keine Scheiben in den Fenstern, aufgeschlitzte Federbetten und Kissen, alles voller Glasscherben von Geschirr und Flaschen, Abfälle, Verschmutzung verschiedenster Art. Der Hof und die Felder bedeckt mit Kriegsgerät. Es hatte den Anschein, als ob niemand imstande sein würde, das alles aufzuräumen, zu säubern. Beschädigte Möbel, von den Wänden der Wirtschaftsgebäude abgerissene Bretter, Skelette erschlagener oder vor Hunger und Durst verendeter Tiere in den Wirtschaftsgebäuden und auf den Feldern. Auf Schritt und Tritt Minen, Blindgänger.
Unter Lebensgefahr machten wir innerhalb einiger Tage einige Zimmer bewohnbar und die Küche benutzbar. Wir schliefen auf dem Boden, mit den eigenen Kleidern bedeckt, und auf den mitgebrachten eigenen Kissen. So wie andere „Organisatoren“ waren wir durch die Situation gezwungen, nach Heilsberg zu fahren, um aus den leeren Gebäuden der ehemaligen Radiostation einige Scheiben zu ergattern und wenigstens eine in jedes Fenster des Hauses einzusetzen; die übrigen Fensteröffnungen vernagelten wir mit Brettern oder verstopften sie mit Kissen. Die Reinigungsaktionen dehnten wir nach und nach auf die Wirtschaftsgebäude und auf den Hof aus. Durch diese Arbeit wurden wir nach und nach auch mit den fremden Winkeln des Hauses vertraut; sie brachten uns dazu, sich mit den Tatsachen abzufinden, dass es kein Zurück zu der geliebten heimatlichen Wilnaer Gegend geben würde, dass diese Gebiete hier auf immer unser waren, unser auch die Gebäude und das ganze Land.
Bei vielen Bewohnern … jedoch hielt die Unsicherheit lange an. Dauernd wurde gesagt, dass die Eigentümer zurückkehren, dass die Deutschen uns den Boden wegnehmen würden. Die Bewohner der Dörfer und kleinen Städte renovierten die Gebäude nicht, investierten nicht in ihre Bauernhöfe, die ganze Zeit warteten sie ab.
Erst nach vielen Jahren begannen sich die Dörfer … positiv zu verändern. Meine Eltern begannen die Gärten zu bearbeiten, die Felder zu pflügen und anzusäen. …
Dieser Bericht wurde vor mehreren Jahren unter der Überschrift: ‚Erlebnisberichte von polnischen Umsiedlern‘ vom Herder-Institut veröffentlicht. Leider stimmt der kopierte Link nicht mehr – ich finde den Bericht nicht wieder.
Danke für den Ereignissbericht. Immer wieder sehr interessant und wie es
wohl unseren Vorfahren und Familien ergangen sein muss.