Emil Gustav Reimer (1871-1959)

Er wollte seine Heimatstadt Landsberg im Kreis Pr. Eylau auf keinen Fall verlassen – weder bei Kriegsbeginn, noch nach Beendigung des Krieges ….

Emil Gustav Reimer kommt am 24.11.1871 in Landsberg als Sohn des gleichnamigen Schlossermeisters und dessen Ehefrau Heinriette Squarr zur Welt. Wie vor ihm schon sein Vater, so wird auch Emil Reimer Schlossermeister. Im Alter von 30 Jahren heiratet er am 6. Oktober 1902 in Landsberg die ebenfalls dort geborene Margarethe Johanna Bass und gründet eine Familie. Emil ist jedoch nicht nur Schlossermeister, sondern auch ein angesehener Kaufmann.

Das ehemalige Reimer-Haus heute

Er besitzt ein Haus am Marktplatz ‚das schönste Haus der ganzen Stadt‘ – gebaut 1911 von dem Baumeister Paul Strehl.

Im oberen Teil dieses Hauses wohnt die Familie – Teile des Hauses sind vermietet. Unten befinden sich Emil Reimers Geschäft für Eisenkurzwaren, sein Sohn Walter – geboren 1906 – verkauft Fahrräder, Motorräder und Nähmaschinen. Im linken unteren Teil befindet sich eine Filiale von Kaiser’s Kaffee Geschäft.

Als der 2. Weltkrieg ausbricht und die Stadt von russischen Soldaten besetzt wird, ist Emil Reimer über 70 Jahre alt. Seine Kinder verlassen ihre ostpreußische Heimat, aber Emil und seine Frau entschließen sich, zu bleiben. Im vergangenen Jahr wurde in seiner ehemaligen Heimatstadt – heute Górowo Iławeckie – bei Bauarbeiten Emil Reimers Tagebuch gefunden – in einem Glas aufbewahrt und in der Erde vergraben. Emil Reimer hat darin genauestens notiert, wie es ihm während der Jahre nach Beendigung des Krieges in Landsberg ergangen ist.

Beim Lesen seiner Aufzeichnungen habe ich den Eindruck, dass das Schreiben dieses Tagebuchs ihm sehr geholfen haben muss, die schwere Zeit zu überstehen. Er beschreibt, wie er immer wieder versucht, sich gegen Drangsalierungen und Übergriffe zu wehren. Formulierungen wie: „wollte mich beschweren … habe mich geweigert … brachte mein Anliegen vor … habe Anzeige beim Bürgermeister gemacht …. lehnte die Unterschrift ab und ging fort … habe es gemeldet, aber erfolglos“ verdeutlichen, dass Emil Gustav Reimer trotz aller Widrigkeiten zu keiner Zeit resigniert.

Einige Auszüge aus seinem Tagebuch:

„Mitte Januar (1945) wurde (ich) durch Stadtwachtmeister Westphal ( = Otto Paul Westphal *1894 in Spittehnen) aufgefordert, den Laden zu räumen zu einem öffentlichen Aufenthaltsraum für Flüchtlinge, auch musste der Luftschutzkeller als öffentlicher frei gegeben werden. Die Waren mussten aus dem Laden alle in den Keller bringen und wurden in 5 Räumen vermauert und war dies nicht zu erkennen. Der Laden war dauernd von Flüchtlingen belegt, der Luftschutzkeller ebenfalls mit weit über 100 Personen.

Am 2. Februar 1945 kamen die Russen, obgleich immer noch amtlich verkündet wurde(,) dass keine Gefahr vorhanden und besetzten Landsberg, wir mussten aus der Wohnung nach dem Luftschutzkeller. Unter auf die Brust gesetzter Pistole mussten wir alles herausgeben.

In unserem Zimmer hinter dem Laden hatten wir einen verwundeten Flüchtling und Frau Meyrahn von hier(,) die schwer krank war(,) untergebracht, die am 7. Februar Nachts starb. Am 8. Februar mussten wir aus dem Hause und durften nichts mitnehmen. In der Nacht waren die Gebäude in der Töpferstraße hinter unserm Wohnhause von den Russen abgebrannt, ebenso die Häuser von Woyahn, Schmidt, Vanhöfen, Petruschka, Wormitt, Deutsches Haus, Post, O. Kirstein und andere, auch mein Haus fing bereits an am Dach zu brennen, konnte es aber mit Hilfe von Fr. Dr. Meyerfeld noch vom Dach aus löschen, wobei wir vom Rathausturm mit Maschinengewehre beschossen wurden.

Die Straßen waren voller Autos mit Offizieren mit Frauen und Militär. Mit Hilfe eines Russen wurden wir aus der Stadt gebracht, gingen über Gr. Peisten bis Borken, wo wir nach einigen Tagen weiter gingen nach Pilven und andere Güter bei Bartenstein, überall musste bei den Russen gearbeitet werden, auch mussten wir Vieh treiben. …..

Die Russen fuhren viele Waren und Möbel mit Lastautos und Fuhrwerken fort. Die Bahnverbindung nach Zinten und Heilsberg war zerstört, die Schienen zum Teil fortgefahren. Dann wurde Landsberg von den Polen besetzt. Unser Laden war Autogarage geworden, die Ladeneinrichtung wurde zerschlagen und verbrannt. Der kleine Laden wurde später Lebensmittelgeschäft. Das ganze Haus wurde vom Landratsamt für Büroräume beschlagnahmt. Das Haus war in bestem Zustand und wurde jetzt alles vernichtet. Wir durften das Haus nicht betreten. …

Im Sommer 1947 musste (ich) auf Anordnung des Landrats … sämtliche Firmenschilderrahmen und die Schaufenstermarquisengestelle mit Federzug am Haus abnehmen und fortbringen. Anfang Mai 1948 Treppenverschlag im Flur aufgebrochen und ausgeraubt. Das große eiserne Fenster im Lagerraum neben der Werkstatt ausgebrochen, die Lagergestelle in demselben Raum abgebrochen und verbrannt. März 1947 wurde vom hinteren Balkon der zweiten Etage unser Nußbaumtisch(,) als ich die hintere Straße ging(,) herunter geworfen und war in Stücke(,) die ich in Verwahrung nahm. Unser Nußbaum Buffet(,) das noch oben in einem hinteren Zimmer stand(,) ist klein geschlagen worden und verbrannt, weil das Landratsamt kein Holz hatte.

(Im) Sommer 1947 hatte der Rektor der Stadtschule … meinen am Schulhof liegenden Garten für sich als Gemüsegarten genommen und bepflanzt, ich forderte von ihm dafür Pacht, was er ablehnte, auch auf Anzeige bei der Schulinspektion erreichte (ich) nichts, als der Garten abgeerntet(,) wurde er zum Schulhof genommen und die Umzäunung abgebrochen.

Vom Polizisten … wurde ich nach der Schmidtschen Brandstelle nach dem Markt geholt, wo eine tiefe Grube gegraben und mir in Gegenwart von noch 3 Polizisten angedroht wurde, wenn ich nicht weitere Angaben über versteckte Waren machen würde(,) sollte (ich) in das Loch gestellt werden und dann zugeschüttet werden, hatten aber keinen Erfolg damit.

Am Ende der Notizen sind Auflistungen zu finden, die Emil Reimer über die ihm entwendeten Besitztümer angefertigt hat – zum Beispiel:

Inhalt der Wandtresors
• 2 Geschäftskontobücher über Forderungen
• 1 „ über Einkauf
• 1 Contobuch über Verkauf auf Abzahlung
• 1 Buch über Einzahlungen bei der Landesbank Löbn. Langgasse an der Brücke oben die Stadtschaft
• Ein Bankkonto derselben Bank mit Eintragung der Zinsen der Stadtschaft
Hinterlegungsschein über 50.000 RM Pfandbriefe, diese sind der Landesbank
im Tresor zur Aufbewahrung übergeben mit Vollmacht für Walter Reimer

• 3 Dollarnoten á 5 Dollar
• 2 Dollarnoten á 2 Dollar
• 1 Beutel mit Inhalt
• 1 14 karat goldene Panzer ..kette
• 1 Paar goldene Manschettenknöpfe
• 1 Krawattennadel Gold mit Brilliant
• Silbergeld, seltene wertvolle Stücke – Nennwert M 420
• 5 Rasierapparate
• 250 Rasierklingen

Adolf Hubert Osthaus, der 12 Jahre lang (von 1945 bis 1957) als Lehrer im Kreis Pr. Eylau – von 1945 bis 1951 als ‚polnischer Hauptlehrer‘ in Topprienen und anschließend in Landsberg – unterrichtete, lernt in Landsberg auch Emil Reimer kennen und berichtet 1957:

Heute haust er in einem kleinen dunklen Stübchen, in das kein Sonnenschein dringt, zwischen rohen Wänden, von denen der Putz abgeblättert ist und die von Feuchtigkeit durchtränkt sind. Aus den Fenstern dieser finsteren Wohnun sieht er auf sein ehemaliges Eigentum, das früher einmal das schönste Haus der ganzen Stadt gewesen ist. Heute ist darin das polnische Landratsamt untergebracht. Er ist schon über 85 Jahre alt. … Er lebt davon, dass er die alten deutschen Nähmaschinen, die jetzt im Besitz der Polen und Ukrainer sind, repariert. Kleine Ersatzteile und Nadeln bekommt er in den Paketen seiner Kinder aus Westdeutschland. So kann er notdürftig sein Leben fristen. Seine Mahlzeiten kocht er sich selbst. Er wäscht seine Wäsche und holt in den Geschäften ein. Er fällt auch heute noch in seinem Alter durch sein gepflegtes Aussehen und seine Sauberkeit in der verwahrlosten Umgebung auf.

Dieser alte Landmann spricht kein Wort Polnisch. Die Kirche, in deren zerstörtem Schiff er früher seine Familienbank hatte – er war Kirchenältester – besucht er nicht mehr, weil er den polnischen Gottesdienst nicht versteht. Dafür pflegt er mit rührender Hingabe das Grab seiner verstorbenen Frau Margarethe Johanna Reimer, geb. Bass verstirbt kurz vor ihrem 80. Geburtstag im Januar 1956und richtet die anderen deutschen Gräber wieder her, die von den Kindern beim Spielen beschädigt werden. Er ist jeden Tag auf dem alten deutschen Friedhof zu finden.

Ich bin oft und gern bei diesem Landmann in seiner finsteren Behausung zu Gast gewesen. Er lebt ganz in seinen Erinnerungen, kennt jeden Namen, weiß um jedes Schicksal…. Ich habe ihn oft gefragt, warum er den dringenden Bitten seiner Verwandten nicht nachkäme, da er doch in Westdeutschland seinen Lebensabend in Ruhe und in geordneten Verhältnissen beschließen könne. Er antwortete mir: „Wer soll denn die Gräber pflegen? Hier ist mein Zuhause und hier will ich auch sterben. Hier gehöre ich hin! Ich kenne jeden Stein in dieser Stadt und ich rede mit den Steinen, denn die Menschen verstehen mich nicht.“ (Quelle: Das Ostpreußenblatt vom 12.10.1957)

Emil Gustav Reimer wird fast 88 Jahre alt und stirbt am 2. Juli des Jahres 1959 in seiner Geburtsstadt.


Ein weiterer Bericht des Lehrers Adolf Hubert Osthaus:

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